Durch die digitale Brille gesehen: Blob, Bildung und frische Luft

Heute schreibe ich einen Blob-Beitrag in diesem Blog-Beitrag! Ein Blob kann singen. Die vier bunten digitalen Wabbelgestalten sehen aus wie dicke bunte Meerespolypen mit Gesicht. Mit ihrer Hilfe kann sogar jemand wenig musikalisches wie ich eine Art Oper komponieren! Die Blobs findet man bei Google Arts and Culture oder bei david.li. Der Entwickler David Li hat vier Opernsängerinnen und -Sänger jeweils 16 Stunden mit ihrem Gesang eine  künstliche Intelligenz (KI) trainieren lassen. Die KI hat eine Art Extrakt aus deren Stimmen und Stimmlagen gezogen und jeweils einem Blob zugeordnet. Man kann mit ihnen spielen, indem man die Blobs nach oben oder zur Seite zieht und so unterschiedliche Töne singen lässt. 

Ja, das ist daddeln für meine Generation oder für Boomer. Gerade hat man ja so ein bisschen das Gefühl, die Pandemie spaltet die Generationen. Die älteren sind geimpft, die jüngeren müssen noch warten. Was uns eint ist, dass wir durch die Pandemie mehr und mehr Zeit im Internet und vor dem Bildschirm verbringen. War es 2015 noch besonders, dass Jugendliche ständig auf ihr Smartphone schauten, so sind wir doch mittlerweile fast alle Smombies (Smartphone-Zombies). Damals war es das Jugendwort des Jahres. 

Meine Familie sagt immer: „Mama, hör auf zu tickern!“ Meistens lege ich dann etwas schuldbewusst das Handy zur Seite und widme mich der realen Welt. Inkonsequent, wie wir Erwachsenen häufig sind, darf ich „tickern“, aber meine Kinder nicht. Meiner großen Tochter gestehe ich erst ein Smartphone zu, wenn sie im Sommer in die fünfte Klasse kommt, und ich ihr zuvor in Grundzügen die Funktionsweise des Internets und der sozialen Medien beigebracht habe. Ich sagte ihr, es wäre mir zu gefährlich, wenn sie einfach so ein Smartphone bekäme. Ja es ist gefährlich, zumindest in den dunklen Tiefen des www.

Ich lege die Geräte viel zu selten aus der Hand. Nicht, dass ich irgendetwas total wichtiges verpasse! Natürlich ist der Suchtfaktor nur ein Aspekt. Ich habe mittlerweile vier Messenger und drei Social Media-Kanäle auf dem Handy gleichzeitig im Gebrauch. Und dann ist ja noch dieses old-school-Ding, die Homepage mit diesem Blog. Und Email und Partei-Email und dienstliche Email. Ich hätte nie geglaubt, dass ich jemals so kommunikativ sein würde. Was mich dann aber doch von meiner zehnjährigen Tochter unterscheidet, ist, dass ich weiß, was Fake und was Realität ist, und dass ich meinen Weg durch das Netz ganz gut alleine finde. Ich weiß auch, wo ich nicht hinschauen und wo ich nicht drauf klicken sollte. Die Cookie-Banner sind eine gewisse, nervige Routine, auch wenn ich die dafür verantwortliche DSGVO als solche wichtig finde. 

Ich halte es für immens wichtig, dass Kinder die so genannte digital literacy, also die Fähigkeit sich im Internet selbstbestimmt zu bewegen, schon in der Grundschule lernen. Die PISA-Sonderauswertung: Lesen im 21. Jahrhundert belegt, dass deutsche 15-jährige beim Erkennen von Unwahrheiten im Netz international nicht gerade gut abschneiden. Bei der Aufgabe: „Wie man verschiedene Webseiten miteinander vergleicht und entscheidet, welche Informationen für deine Aufgaben in der Schule geeigneter sind.“ schreiben sich nur 46,5 % der Schüler*innen diese Kompetenz zu. Im OECD-Durchschnitt sind es 62,5%! 

In der dritten Klasse stand im Deutsch-Lehrbuch meiner Tochter, wie man in einem Textverarbeitungsprogramm auswählt, markiert, ausschneidet und einfügt. Alles in Theorie auf Papier. Ernsthaft? Und ist es wirklich zu viel verlangt, dass Kinder heutzutage in der Grundschule eine Idee von den Weiten des Internets bekommen? Es ist viel einfacher nachzuvollziehen, was Rechner, Social Bots oder Roboter können und auch nicht können, wenn man die Funktionsweise eines Algorithmus und die Prinzipien der Sprache dieser Geräte und Programme verstanden hat. Die schönen, glänzenden Geräte mit den bunten Bewegtbildern sollten keine Zauberkisten mit unverständlicher Magie bleiben, bis Kinder in die Pubertät kommen! 

In England lehrt man schon die Kleinsten übrigens mit Papier und Stift „Computational Thinking“. Gerade dann, wenn es über Bedienschulung hinausgeht – und dass ist generell eher etwas für ältere Menschen – sind viele Eltern überfordert. Wir haben es ja auch vielfach nicht gelernt und was bei mir in der Schule Informatik war, war langweilig, theoretisch und etwas für Nerds, meist Jungs. Das heutige Data Science erweckt da ganz andere Assoziationen. In Indien müsste man für dieses Fach wohl bald einen „boys day“ einführen, so viele Mädchen studieren es. Auch wenig bekannt ist, dass in der Geschichte des Computers Frauen eine große Rolle spielen. „Computer“ waren sogar zunächst Frauen, die komplizierte Rechenoperationen für die NASA machten. Und die Geschichte des Programmierens wäre ohne Ada Lovelace, die programmierbare Maschinen vorausdachte, lange bevor es sie gab, und ohne die Frauen, die ihr folgten nicht geschrieben worden. 

Zurück zur Schule: Beginnend mit der Grundschule halte ich das Erlernen von Digital-Grundwissen für wichtig, um sich in einer Welt voller digitaler Paralleluniversen zurechtzufinden zu können. Darauf aufbauend ist es viel einfacher und wirksamer Medienkompetenz zu erlangen. Das darf schon im Sinne der Chancengerechtigkeit nicht Aufgabe der Eltern sein. 

Sollen nicht Grundschulkinder lieber draußen im Schulgarten Erfahrungen machen, anstatt hinter Bildschirmen zu sitzen? Erstens: Nicht jedes Grundwissen ist an den Bildschirm gekoppelt. Lego-Roboter, Raspberry Pie und Co. sind durchaus dreidimensional. Zweitens: Wir können unsere Kinder nicht von einer Welt fern halten, die uns Erwachsene so sehr in Beschlag nimmt und die sie so sehr betrifft, wenn es um ihr späteres Leben geht. Aber wir können und sollten darüber nachdenken, ob die neuen Inhalte noch oben drauf kommen oder ob es nicht möglich ist, Lehrpläne so auszudünnen, dass es insgesamt passt. Und genau deshalb ist digitale Bildung eben etwas, das weit über die Beschaffung von ein paar Geräten hinaus geht. 

Vor fünf Jahren habe ich einen Vortrag von einem finnischen Bildungsexperten gehört, der bei mir bis heute nachwirkt. Er sagte, sie hätte die Grundschullehrpläne um die Hälfte der Inhalte entschlackt. Eine Schulstunde beginne mit 15 Minuten Aufwärmen, dann 15 Minuten Stoff und zum Schluss 15 Minuten Anwendungen, z.T. mit den Handys der Kinder. (Das Prinzip ist „bring your own device“, wobei also alle mit ihren Geräten auf das gleiche Lernportal zugreifen.) Man hätte auch mehr Zeit für Bewegungspausen eingeführt. Unruhige Kinder dürften auf Bällen sitzen. So wenig Inhalt reicht aus, um so gut in internationalen Vergleichsstudien abzuschneiden? Anscheinend schon. Es geht nämlich gar nicht nur um das was, sondern auch um das wie, die Motivation! Und da ist man ganz schnell bei den Lehrer*innen. Wenn sie motiviert sind, hilft das auch den Kindern. Aber Pädagogen brauchen Zeit, um sich fortzubilden und mit der Zeit gehen zu können und auch, um sich mit eigenen Ideen an Veränderungen im System zu beteiligen. Und wie in der Medizin ist es auch hier: Arbeitsverdichtung aufgrund fehlenden Personals wirkt sich nicht sofort negativ aus, aber eben langfristig schon.

Kinder haben übrigens immer jünger eigene Smartphones, schon weil es Eltern ein sicheres Gefühl gibt. Aber darf ich mein Kind wirklich tracken? Ich glaube, ich möchte das nicht tun. Wir wollen mündige Kinder und Jugendliche. Dann sollten die „Getrackten“ es wissen und damit einverstanden sein. Es ist so weit weg von dem Begriff von Freiheit, den ich als Kind hatte, dass es sich für mich nicht normal anfühlt, dass ich zu jeder Minute weiß (und wissen will), was meine Familie tut. Zum Gymnasium bin ich schon ab der fünften Klasse jeden Tag mit dem Fahrrad 9 km hin und 9 km zurück gefahren, ganz alleine. Und ich kam klar, ganz ohne Handy. Und selbst wenn mir die Kette raussprang, so musste ich eben lernen, sie wieder aufzuziehen. Meine Eltern hatten Vertrauen in mich und ich habe es nicht missbraucht. 

Es ist auch so, dass der Bewegungsradius von Kindern über die letzten drei bis vier Generationen von einer zur nächsten Generation abgenommen hat. Liefen unsere Großeltern noch selbstverständlich fünf Kilometer oder mehr zur Schule, werden viele Kinder heute mit dem Auto gebracht. „Der durchschnittliche Bewegungsradius von Kindern hat sich seit den Sechzigern von mehreren Kilometern auf etwa 500 Meter reduziert, während die Risiken, denen sie tatsächlich ausgesetzt sind, immer weiter abgenommen haben“, schrieb der Spiegel am 19.08.2018. Es gibt Dinge, wie die Bewegungsfreiheit, die wir der digitalisierten, bequemen und gesicherten Welt abtrotzen sollten, einfach weil es gut tut. Meine Kinder werden so wie ich vor die Tür an die frische Luft gejagt, wenn sie schlechte Laune haben. Wenn sie zurück kommen, sind sie meist voller Energie. Doch nicht alles ist wie damals und muss es auch nicht sein. Meine Kinder werden anders als ich viel kreativer mit digitalen Werkzeugen umgehen und ihre Freude daran haben dürfen. Das Beitragsfoto hat meine zehnjährige Tochter von mir gemacht, indem sie mit dem Panoramamodus der Handykamera experimentiert hat. Ich habe ihr das nie erklären müssen, sie erklärt es mir!